3. Zur versäumten "Heilung" im Sinn von "Ganzwerden"
"Krankheit ist der Wendepunkt, an dem das Unheil sich in Heil wandeln lässt ... Heilung ist immer mit Bewusstseinserweiterung und Reifung verbunden ..."
aus "Krankheit als Weg" v. Thorwald Dethlefsen und Rüdiger Dahlke.
Herbstbeginn
Wir lassen sommers unsere
Wunden grasen, bis
schneidiger Wind
sie befällt und
Krähenruf den Hori-
zont zer-
sägt.
Wir alle, zumindest fast alle, haben "Wunden" im Sinne des obigen Gedichts; wir leiden in irgendeiner Form an irgendetwas. Vielleicht kopieren wir ja unvorteilhafte Haltungen oder
Verhaltensweisen unserer Eltern und erleiden so Nachteile. Ein Kind wurde von seinen Eltern abgelehnt und ist aus diesem Grund traumatisiert. Partner oder Freunde haben uns tief verletzt. Es gibt
vieles, was uns leiden macht. Leiden im Sinne des Gedichts ist so gesehen nicht immer Krankheit im wissenschaftlichen Sinn.
Diese genannten Wunden werden nicht von allen daran Leidenden, auch nicht von den schon etwas gereifteren ("sommers", d.h. Menschen im Sommer ihres Lebens), behandelt, d.h. einer Heilung
zugeführt. Viele Menschen scheinen ihre Gebrechen sogar zu brauchen und führen sie deshalb zur Weide, lassen sie grasen. Mir fällt auf, dass nicht wenige Menschen ihre Leiden fast schon zur Schau
stellen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Das soll keine Kritik sein: Diese Menschen können nicht anders. Auf diese Weise aber verkleinern sich die Leiden nicht, im Gegenteil: Sie werden schlimmer.
Durch das Mitleid der Mitmenschen bekommen die Wunden eher noch Nahrung (die Wunden "grasen").
In dem Gedicht kommt es aber plötzlich zu einem Ereignis, das alles verändert: Ein "schneidiger Wind" kommt auf. Eine starke Veränderung greift auf dynamische Weise in das Geschehen ein,
noch bevor sich der betroffene Mensch mit seinem Leiden beschäftigen kann, indem er in sich hinein horcht, um zu ergründen, was ihn tatsächlich leiden lässt, was ihm zur Ganzwerdung
fehlt.
Dieses Ereignis - das kann die Kündigung durch den Arbeitgeber, eine Erkrankung eines Familienmitglieds oder ein Unfall sein - fällt über die Wunde her, bemächtigt sich ihrer und wirkt
auf sie, medizinisch gesehen, wie ein Befall, eine (erneute) Infektion. Durch die neuerlichen Umstände kann sich der Mensch jetzt nicht mehr um die Heilung der Wunde kümmern; vielmehr wird der
Horizont des Menschen zersägt. Seine Zukunftsperspektive, seine Sehnsüchte und Utopien werden (durch "Krähenruf") zunichte gemacht. Krähen und Rabenvögel werden im Lauf der Menschheitsgeschichte
in den verschiedenen Kulturkreisen ambivalent gesehen. Einerseits werden sie mit Weisheit, Einsicht und Wissen in Verbindung gebracht; andererseits aber gelten sie als Vorboten des Todes*. Und in
der Tat heilen Wunden in der kalten Jahreszeit ("Herbstbeginn") nicht mehr allzu gut. Es ist sicher von Vorteil für uns, in Zeiten, in denen es uns noch einigermaßen gut geht, in selbstkritischer
und achtsamer Weise etwas für unsere menschliche Vervollkommnung zu tun.
*Den Ruf der Krähe hat sicher jedermann im Ohr: Er klingt tatsächlich etwas nach Säge ...
Stilistisch ist die Zerstörung der Zukunftsaussicht durch die Trennung der Worte "Horizont" und "zersägt" sichtbar. Ebenso steht diese Trennung für die Zerrissenheit und fehlende Einheit
des Menschen.